Leseprobe
Zur Einleitung: Es gibt unglaubliche Geschichten
Mütter versinken in nicht enden wollender Verzweifl ung, wenn ihr fast erwachsenes Kind auszieht;
Trennungen zwischen Partnern hinterlassen Wunden, die nie mehr zu heilen scheinen;
Ausgewachsene Männer werden sofort krank, wenn sich ihre Partnerin entfernt;
Frauen überwachen ihre Männer per Handy auf Schritt und Tritt;
Väter sind auf alles und jeden eifersüchtig;
Frauen betteln darum, nicht verlassen zu werden, und drohen mit Selbstmord
und, und, und ...
Was haben diese unglaublich anmutenden Geschichten gemeinsam?
Es handelt sich um Menschen, die sich zwar im Beruf intelligent und entscheidungsfähig erleben, aber wenn es um Beziehungen geht, werden sie plötzlich hilfl os wie kleine Kinder. Sie fragen sich selbst, was mit ihnen los ist, denn das Leid, das in ihnen immer wieder aufbricht, ist ihnen unerklärlich.
Der Schlüssel zu der Misere heißt Verlustangst. Ihre Ur - sachen und Auswirkungen sind vielen Betroffenen nicht so klar. Wir werden uns also der Verlustangst an die Fersen heften. Wir wollen begreifen, was Menschen so an den Rand ihrer Möglichkeiten bringt. Es wird uns dabei interessieren, wo die Wurzeln des Leides zu suchen sind, welche frühen Verletzungen und ungünstigen Voraussetzungen die Entstehung einer Verlustangst begünstigen. Betroffene stehen manchmal fassungslos vor ihren eigenen Gefühlen, denn sie übersehen, wie ein aktueller Schmerz die Verlustwunden, die in der Kindheit erlitten wurden, wieder dramatisch aufl eben lässt. Diese oft vergessenen seelischen Verletzungen haben viele Auswirkungen. Sie gehen tiefer, als die Be troffenen ahnen.
Speziell Mütter, in ihrer besonderen Ausrüstung als Pfl egerinnen des Beziehungsnetzes, leiden vermehrt unter quälenden Verlustängsten. Daher soll ihnen hier auch ein beson deres Verständnis zukommen. Aber nicht nur die Mütter sollen rehabilitiert werden. Auch Frauen, die keine Kinder geboren haben, und viele Männer tragen oft schwer an ihren alten Verlusttraumen. Sie sind Opfer ihrer Vergangenheit und werden gleichzeitig zu Tätern an ihrer Umgebung. Oft merken sie gar nicht, wie sehr sie die Menschen um sich herum terrorisieren, und fühlen sich als ewig ungerecht Behandelte. Vielleicht lassen ihnen die folgenden Texte manche Zusammenhänge klar werden.
Zuerst werden wir uns mit der Angst an sich beschäftigen und uns den, zum Teil genetisch bedingten, Beziehungen zwischen den Generationen zuwenden. Dann sehen wir, dass diese Bindungen durch alte Defekte und Defi zite gestört sein können: durch die Auswirkungen einer alten Verletzung, der »Wunde des Verlustes«. Nach diesen frühen Trennungen, die schmerzende Stellen in den Seelen der Betroffenen hinterlassen haben, wenden wir uns den aktuellen Beziehungsrissen zu und sehen, wie sie den alten Schmerz wieder aufl eben lassen. Auch die unlauteren Mittel und Tricks, zu denen sowohl Männer als auch Frauen greifen, wenn sie Menschen an sich binden wollen, um ihrer Verlustangst nicht ausgesetzt zu sein, werden uns interessieren. Schließlich wird der Versuch skizziert, über Trauerarbeit, Wandlungsrituale, Psychotherapie und mithilfe von Partnern und Umwelt einen neuen Anfang zu fi nden. Mit dem positiven Verarbeiten einer Trennung wird gleichzeitig die alte Wunde geheilt und die »unsichtbare Nabelschnur« zwischen den Generationen saniert. Das bedeutet, dass der frühere Schmerz nicht mehr in die nächste Generation als fatales Erbe weitergetragen werden muss.