"Wenn ich mich frage, worin mein Judentum besteht, so finde ich keine wirklich befriedigende Antwort. Ich weiß nur, daß es besteht. Ich bin in ihm nicht verwurzelt, von ihm nicht beherrscht, aber ich fühle mich als Jude." - Derart suchend, ja tastend, beginnt Hildesheimers Vortrag "Mein Judentum" (16.4.1978, SDR). Mir war Hildesheimer in meiner Schulzeit begegnet, der folgende Textauszug (aus dem Buch "Tynset", ohne daß ich das damals wußte) war in meinem Schulbuch abgedruckt; diese phantastische Erzählung: "Eines Nachts stieß ich im Telefonbuch auf den Namen des Bewohners eines schräg gegenüberliegenden Hauses. Ich kannte ihn nicht. Ich glaube, er hieß Huncke oder so ähnlich. Ich rief ihn an, es war schon spät in der Nacht (...)" Der Erzähler fragt den Angerufenen unvermittelt, ob sich schuldig fühle, warnte ihn: "Herr Huncke, hören Sie mir jetzt bitte gut zu: es ist alles entdeckt. Alles, verstehen Sie? Ich möchte Ihnen daher raten: fliehen Sie, solange Ihnen noch Zeit bleibt!" Danach beobachtete er, wie in dem Haus die Lichter angingen und der Mann mit einigen Koffern in ein Taxi stieg und floh. Dies wiederholt sich mit drei, vier anderen Personen, die er anruft. Mich hat das als 15- oder 16-Jähriger sehr berührt, doch erst später, im Studium, fand ich zufällig diesen Text in dem ganzen Buch und kam so erst zu Hildesheimer. Und erst da konnte ich den Hildesheimer aus dem SDR-Vortrag, den Schulbuchtext und seine wie meine Geschichte zusammensehen... "Ich liege im Bett, in meinem Winterbett. Es ist Schlafenszeit. Aber wann wäre es das nicht? Es ist still, beinah still. Nachts weht hier meist ein Wind, und es krähen ein oder zwei Hähne. Aber jetzt weht kein Wind, und es kräht kein Hahn, noch nicht. Dafür knackt es hin und wieder im Holz der Täfelung meiner Wände, irgendwo spaltet sich eine Füllung, wirft sich und löst sich schrumpfend aus dem Rahmen, uralter Leim bröckelt in Perlen ab oder rieselt als Mehl, oder ein Riss huscht entlang einem Balken der Zimmerdecke, von einer Ecke bis tief in die andere, und darüber hinaus, durch die hölzerne Wand, weiter dem Balken entlang, in das nächste Zimmer, das leere Zimmer, wo er versickert und verklingt." Ganz bemerkenswert auch die Geschichte dieses Bettes, in dem er liegt, wie er sie phantasievoll sich ausmalt: "Hier liege ich in meinen Sommernächten, in diesem Bett, das sieben Schläfern Platz bot –, in dem aber schon lange, lange keine sieben Schläfer mehr gelegen haben, nicht seit jener Nacht im späten Frühling oder sagen wir im frühen Sommer des Jahres 1522, da lagen vielleicht sieben Schläfer in diesem Bett, zum letzten Mal – da kam früh abends ein Mann, vielleicht ein Mönch, schmächtig und dünn bis auf seine großen, breitgetretenen, auf entsagungsvollen Wegen erhärteten Barfüße, vor die Herberge, in der dieses Bett stand, er kam müde, er war vielleicht schon wochenlang unterwegs, kam von St. Gallen, und sein Ziel war Irland – betrat das Gasthaus, erbettelte dort einen Eintopf aus Resten, den ihm die Wirtin gern gab, da sie mit der Speisung von dieserart Gästen ihren Platz im Jenseits zu halten hoffte, der ihr aus mancherlei Gründen nicht sicher zu sein schien..." Der Text ist auszugsweise zu lesen bei dieterwunderlich[dot]de[slash]Hildesheimer_tynset... Hildesheimer zu lesen spannt literarisch und psychologisch, auch historisch und politisch große Bögen, insbesondere bei "Tynset"; wer kleinere, ebenso hübsche mag, der liest zuvor Hildesheimers "Lieblose Legenden".Vollständige Rezension lesen
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